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Der Schweizer Jean Ziegler hat sich einen Namen gemacht als Kämpfer gegen den Hunger auf der Welt und streitbarer Buchautor. Zu seinem 90. Geburtstag spricht er mit der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) über Begegnungen, die ihn geprägt haben, und über Fragen, die ihn bis heute umtreiben.
Von 2000 bis 2008 war Jean Ziegler UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung; von 2009 bis 2019 Vizepräsident des Beratenden Ausschusses des UN-Menschenrechtsrates. Als dessen Berater ist er heute noch aktiv.
Herr Ziegler, wann sind Sie das erste Mal mit dem Thema Hunger in Berührung gekommen?
Das muss ein Zeitungsbericht gewesen sein, mit Bildern von Kindern aus dem Sudan. Die lagen am Boden wie kleine, sterbende Tiere. Weil sie sich nicht mehr auf den Beinen halten konnten vor Hunger. Ich bin dann auf eine fürchterliche Zahl gestoßen: Alle fünf Sekunden geht ein Kind unter zehn Jahren am Hunger oder seinen unmittelbaren Folgen zugrunde. Und das auf einem Planeten, der vor Reichtum überquillt.
Ist der Planet tatsächlich noch so reich – trotz Klimakrise?
Die FAO, die die Opferzahlen ermittelt, sagt, dass die Weltlandwirtschaft problemlos zwölf Milliarden Menschen – fast das Doppelte der gegenwärtigen Weltbevölkerung – ernähren könnte, wenn das universelle Menschenrecht auf Nahrung völkerrechtlich begründet wäre und nicht von der Kaufkraft des Konsumenten abhängig wäre. Es gibt keine Fatalität: Ein Kind, das am Hunger stirbt, wird ermordet. Deswegen habe ich das Buch geschrieben, das jetzt wieder aufgelegt wird: „Wie kommt der Hunger in die Welt?“
Über 20 Jahre danach müssen wir feststellen, dass der Hunger immer noch da ist. Was macht das mit Ihnen?
Was der Kleinbürger aus Genf empfindet, ist angesichts dieser fürchterlichen Massenvernichtung unerheblich. Aber natürlich bin ich erschüttert. Der Hunger ist menschengemacht und könnte morgen schon aus der Welt geschafft werden.
Gibt es etwas, das Ihnen Hoffnung macht?
Bis vor etwa zwei Generationen war die Theorie des anglikanischen Pastors Thomas Robert Malthus dominierend. Der hat vor über 200 Jahren Hunger als etwas Schreckliches, aber von Gott gewollt beschrieben. Wenn es den Hunger nicht gäbe, so seine These, wäre irgendwann der Moment erreicht, wo kein Mensch mehr atmen, essen und trinken könnte auf diesem Planeten. Diese Theorie der notwendigen Bevölkerungsreduktion durch das Elend des Hungers hat sich heute erledigt. Zum Glück. Kein Mensch wagt mehr, sie zu vertreten.
Wie blicken Sie vor diesem Hintergrund auf die junge Generation?
Die Jüngeren wissen, dass der freie Markt den Hunger nicht beenden wird. Sie kennen zudem die Welt viel besser als die Älteren. Sie wissen: Wer an Hunger stirbt, wird ermordet – weil es bei einer anderen Gesellschaftsform möglich wäre, allen Menschen ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen.
In Ihrem Buch schreiben Sie „Macht hat nur der Markt. Und der ist mörderisch.“ Papst Franziskus hat einmal gesagt: „Diese Wirtschaft tötet.“ Hat der Papst bei Ihnen abgeguckt?
Ziegler (lacht): Nein, nein. Aber das ist ein ganz außerordentlicher Mann. Bei seiner Wahl muss tatsächlich der Heilige Geist mitgewirkt haben.
Wenn diese Wirtschaft tötet, muss die nächste Frage lauten, wie eine alternative Wirtschaft aussehen kann. Der Kommunismus dürfte es wohl eher nicht sein, oder?
Nein, um Gottes willen. Die Sowjetunion ist 1991 zusammengebrochen, und das ist gut so. Was wir jetzt brauchen, ist ein Aufstand des Gewissens, der Staaten zwingt, die nötigen Reformen durchzusetzen.
Welche Ziele sollte ein solcher Aufstand verfolgen?
Er sollte dazu beitragen, die Börsenspekulationen auf Grundnahrungsmittel zu verbieten. Oder den hoch verschuldeten Ländern in Afrika, Asien und Lateinamerika ihre Schulden zu erlassen.
Wozu soll das gut sein?
Ich gebe Ihnen ein Beispiel aus den afrikanischen Sahelstaaten. In einem normalen Jahr wirft ein Hektar dort 600 bis 700 Kilo Getreide ab. In Europa kommen wir bei gleicher Fläche auf einen Ertrag von rund 10.000 Kilo. Das liegt nicht etwa daran, dass der afrikanische Bauer weniger arbeitsam oder kompetent wäre. Sondern daran, dass der europäische Bauer Hilfen vom Staat bekommt: Bewässerung, Dünger, Markterschließung, Kredite... In den Sahelstaaten gibt es so etwas nicht.
Warum?
Weil diese Länder total überschuldet sind und die Regierungen keine Möglichkeiten haben, in die Landwirtschaft zu investieren.
Sie haben immer schon Klartext geredet. Und nicht nur Missstände angeprangert, sondern auch jene, die Sie dafür verantwortlich halten. Tunesiens Präsidenten Kais Saied bezeichnen Sie als „Rassisten übelster Sorte“, Sergej Lawrow als Wladimir Putins „gewissenlosen Außenminister“. Manche der von Ihnen kritisierten Konzerne haben sich dagegen zur Wehr gesetzt. Wissen Sie, wie viel Geld Sie im Laufe ihrer Karriere an Anwalts- und Gerichtskosten losgeworden sind?